Hilfe beim Einstieg in den Arbeitsmarkt

NZZ Artikel vom 31.5.2021 von Melanie Mettler, Geschäftsleiterin Compasso und Martin Kaiser, demissionierter Präsident von Compasso

Fachleute schlagen Alarm: Die Zahl der an schweren Depressionen leidenden Menschen in der Schweiz hat sich während der Pandemie verfünffacht. Besonders betroffen sind junge Menschen. Damit beschleunigt sich ein Trend. Waren die IV-Neurenten-Zahlen in den letzten Jahren insgesamt stark rückläufig, stieg gleichzeitig der Anteil von Neurenten aus psychischen Gründen stark an. Sogar zugenommen hat die Zahl der Neurenten für 18- bis 24-Jährige. Mehr als 2000 junge Menschen schickte die Schweiz allein 2019 in Rente, sechs von zehn aus psychischen Gründen.

Dies ist besorgniserregend – erstens für die Betroffenen: Wer den Einstieg in den Arbeitsmarkt nicht schafft und in die IV abgleitet, findet kaum mehr den Ausstieg. Wer aus psychischen Gründen den Arbeitsplatz verliert, droht in eine Negativspirale zu geraten. Zweitens entgehen den Arbeitgebern in Zeiten wachsenden Fachkräftemangels wertvolle Ressourcen. Drittens droht Ungemach für die Sozialwerke: Die IV schrieb 2020 unerwartet rote Zahlen, und der Schuldenabbau stoppte. Betroffen sind auch die Ergänzungsleistungen und die Invalidenrenten aus der beruflichen Vorsorge. Die gesamten Kosten für Invalidität: 24 Milliarden Franken pro Jahr; weniger als die Hälfte davon fällt in der IV selbst an.

Die rasche berufliche Eingliederung von Menschen mit Beeinträchtigungen durch Krankheit, Unfall oder Handicap ist deshalb Pflicht. Über 22 000 bei der IV registrierte Menschen konnten 2019 dank koordinierten Anstrengungen ihre Stelle behalten oder eine neue Stelle finden. Selbst im Corona-Jahr 2020 lag die Zahl nur knapp tiefer. Ohne die berufliche Eingliederung wäre die IV-Schuld gemäss IV-Stellen-Konferenz heute doppelt so hoch, gegen 20 Milliarden Franken. Trotzdem besteht Handlungsbedarf. Das bestätigt eine neue Studie von Avenir Suisse. Berufliche Eingliederung ist für Betroffene, ihre Arbeitgeber und die behandelnden Ärzte komplex. Der Kommunikation zwischen diesen drei am Prozess Beteiligten kommt deshalb eine Schlüsselrolle zu. Um den zwingend nötigen Trialog zu erleichtern, entwickelte das Netzwerk Compasso – unter Einbezug von Arbeitgebern, Ärzteschaft und auch Arbeitnehmer- und Betroffenenorganisationen – das ressourcenorientierte Eingliederungsprofil (REP).

Droht ein längerer Arbeitsausfall, sind rasche Weichenstellungen entscheidend. Arbeitgeber und Arbeitnehmer beschreiben im REP die konkreten Anforderungen des Arbeitsplatzes. Erstmals werden dabei auch psychosoziale Belastungen erfasst. Der Arbeitnehmer geht mit der Beschreibung zum Arzt, der sich ein Bild von den Anforderungen macht. Er legt die Arbeitsfähigkeit fest und formuliert Empfehlungen für einen erfolgreichen Rückkehrprozess. Nicht von Interesse ist die Diagnose: Entscheidend ist nicht, was gerade nicht geht, sondern was geht. So wird auch Teilarbeitsfähigkeit – die schrittweise Rückkehr an den Arbeitsplatz – gefördert, und Über- und Unterforderung werden vermieden.

Nachhaltige berufliche Eingliederung erfordert ein Umdenken: von der Defizitorientierung zur Ressourcenorientierung. Mit dem REP steht ein taugliches Hilfsmittel zur Verfügung; die Rückmeldungen sind ermutigend. Die Krankentaggeldversicherer und die IV-Stellen haben deshalb sogar einen Standardprozess definiert, der das REP gezielt einbaut. Und die Vereinigung der Versicherungsmediziner ersetzte ihr Arbeitsunfähigkeitszeugnis kurzerhand durch ein ergänzendes Arbeitsfähigkeitszeugnis.