Jumbo-Markt AG

Detailhandel
Gesamte Schweiz
Praxisbeispiel Jumbo

Wie ist es zur Eingliederung gekommen? (Arbeitgeber)

Eine Partnerschaft mit der Schweizerischen Muskelgesellschaft bestand schon länger. Nun wollten wir jedoch mehr tun als nur Geld überweisen. Wir dachten, es wäre toll, wenn wir es schaffen würden, behinderte Menschen, die von dieser Krankheit betroffen sind, in unsere Läden, in der Zentrale oder Logistik zu integrieren. In Frankreich, wo ich herkomme, habe ich das oft gesehen.

Diese Mitarbeiter, die richtige Mitarbeiter sind, müssen begeistert und motiviert sein und somit haben wir das Projekt der Contactors lanciert. Contactor sind ausschliesslich in der Kundenberatung tätig im Laden. In erster Linie dient die Stelle den Kunden, um in grossen Filialen schneller den passenden Artikel zu finden.

Ziel des Projektes ist, dass sich die Firma nicht nur sozial engagiert, sondern auch einen Gegenwert oder wirtschaftlichen Nutzen erhält. Dieser Gegenwert ist spürbar in Form von Entlastung durch die Contactors aber auch bei der Kundschaft (mehr Rollstuhlfahrer, rollstuhlgängige Durchgänge, z.B. bei den Blumen).

Wie ist es zur Eingliederung gekommen? (Arbeitnehmer)

Ich habe die Sekundarschule A besucht und danach eine Anlehre in einer geschützten Werkstatt als IV-anerkannter Bürofachmann gemacht. Auf diesem Beruf habe ich 1 Jahr gearbeitet. Danach habe ich ehrenamtliche Tätigkeiten für den Rollstuhl-Sportverein mit Schwerpunkt Fundraising und Kommunikation gemacht. Ich beziehe eine volle IV-Rente.

Ich habe in meinem Wohnheim erstmals vom Projekt und Job des Contactors erfahren. Von der Muskelgesellschaft habe ich immer wieder solche Ideen gehört. Ich bin aber davon ausgegangen, dass es momentan wahrscheinlich keine Firma oder Branche gibt, die sich das vorstellen könnte.

Für den Job als Contactor hat gesprochen, dass dies während sechs Monaten Jobsuche das erste wirklich realistische Angebot war. Ich hatte lediglich Bedenken bezüglich der persönlichen Unterstützung (z.B. beim Gang zur Toilette, beim Essen und Trinken, Jacke an-/ausziehen), dass die Leute sich ein bisschen befremdet fühlen könnten. Ich wusste aber, dass ich dann eine Ansprechperson haben werde im Jumbo und schliesslich hatte ich ja nie Probleme an einem fremden Ort jemanden um Hilfe zu fragen. Aber letztlich habe ich aufgrund der Vermittlungsrolle der Schweizerischen Muskelgesellschaft und mit dem klaren Gedanken, dass es höchstens eine Absage geben kann, mich ohne jegliche Erfahrung im ersten Arbeitsmarkt beworben.

Praxisbeispiel Jumbo

Das Projekt startete im Sommer 2015 und läuft somit seit einem Jahr.

Die Probezeit dauerte normal 3 Monate. Herr J. erhielt einen Vertrag für Arbeit auf Abruf ohne Annahmeverpflichtung im Stundenlohn. Der Integrationsprozess wurde durch die Schweizerische Muskelgesellschaft unterstützt. Neben Herrn J. wurden eine weitere Personen mit ähnlichen Einschränkungen eingestellt. 

Einzig die Schweizerische Muskelgesellschaft hat uns unterstützt, beim Platzieren der Stellenausschreibung, bei den Erstgesprächen mit interessierten Bewerbern, beim Einstellungsprozess und bei der Beratung aller beteiligten Personen. Aktuell läuft in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Muskelgesellschaft eine erste Evaluation des Projektes.

Herausforderungen und Empfehlungen des neuen Arbeitgebenden

Nicht alle waren von Anfang an nur begeistert, es gab durchaus auch kritische und zurückhaltende Stimmen, die sich gemeldet haben. Der Integrationsprozess mit Herrn J. kann aber als erfolgreich bezeichnet werden.

Es geht vor allem darum, dass man überzeugt ist, dass es etwas bringt und dass es keine Alibiübung ist.

Nun sind wir daran zu schauen, ob wir noch ein paar andere potentielle Arbeitsplätze in andere Filialen bereitstellen können, aber so weit sind wir noch nicht.

Erfahrungen der Mitarbeitenden

Die Unterstützung für den Gang zur Toilette wurde direkt mit Freiwilligen besprochen. Herr J. und sein Kollege kommunizieren von sich aus, wenn sie Unterstützung brauchen. Sie sprechen Mitarbeitende an.

Für viele ist es ungewohnt, einer erwachsenen Person Essen zu geben u.ä. Das führt zu Unsicherheiten. Ein Mitarbeiter sagt, dass es am Anfang komisch war für ihn, weil er das noch nie gemacht hat, aber in der Zwischenzeit findet er es ok und er hat kein Problem damit. Er müsse sich jetzt die Mittagszeit anders einteilen, aber die Zeit reiche.

Fehlende Erfahrung und Einführung im Umgang mit der Behinderung hemmt die Mitarbeitenden. Doch sie sind sich einig, dass es mit zunehmender Erfahrung einfacher wird, die Person zu unterstützen. Rückmeldungen und Informationen durch den Hilfeempfänger haben geholfen, sicherer zu werden. Die Mitarbeitende sind der Meinung, dass Assistieren auch Spass machen kann und motiviert, und man neue Berufsfelder für sich entdecken kann.

Durch die Unterstützung von Herrn J. werden die Mitarbeitenden sensibilisiert für Menschen, die anders sind, nicht nur in Bezug auf Behinderungen, sondern zum Beispiel auch andere Nationalitäten.

Aussagen von Mitarbeitenden

„Allgemein bin ich wieder freundlicher und hilfsbereiter. Jetzt lebe ich wieder bewusster.“

„Ich mache mir mehr Gedanken um Gesundheit. Um meine eigene Gesundheit und die anderer.“

„Man sieht anhand von diesen beiden Herren, dass es so viel Schlimmeres gibt im Leben, das einem passieren kann. Aber dass man trotzdem so eine Motivation ausstrahlen und Lebensfreude haben kann. Da vergisst man seine kleinen Probleme, die man sonst hat. Oder Stress und so im Alltag, das verschwindet.“

„Es gibt einem schon eine andere Perspektive aufs Leben.“

Persönliche Erfahrung (Arbeitnehmer)

Viele Kunden kommen nur auf mich zu, wenn sie sehen, dass ich schon jemand anders bedient habe. Und vor allem davon lebt das Ganze. Oft ist es so, dass ich Leute anspreche, welche etwas verloren wirken im Laden und ihre Begleiter nach dem Produktestandort fragen. Da ich sehr aufmerksam bin, kann ich dann oft direkt weiterhelfen.

Ich habe das Gefühl, ein Teil vom Team zu sein. Trotz physischer Einschränkung kann ich für Entlastung sorgen, indem ich Kunden abfange, bevor sie zu bereits beschäftigten Mitarbeitern gehen oder indem ich kleinere Kundenbestellungen im Lager hole und zur Kasse fahre. So zeige ich meinen Mitarbeitenden meinen gleichwertigen Einsatz und die Fähigkeit, trotz progressiver Muskelerkrankung eine Stütze zu sein. Jeder hilft im Rahmen seiner physischen und psychischen Möglichkeit mit.

Gerne mache ich Fahrten. Die anderen Mitarbeiter geben mir Produkte auf die Knie und sagen mir, das musst du vom Deco ins Lager fahren und dann musst du es da jemandem in die Hand geben. Dank der Arbeit entstehen neue persönliche Beziehungen, welche über die Arbeit hinausgehen und der Umgang mit fremden Leuten wird einfacher, sprich: ich komme viel schneller mit Fremden in Kontakt.Zudem fällt mir der Umgang mit den ÖV leichter, da ich diese auf dem Arbeitsweg mehr benutze. Auch das Ansehen bei Kollegen stieg, da ich beim Thema Arbeit mitreden kann. Die Erlebnisse im Verkauf oder lange Arbeitszeiten geben automatisch neue Themen im Gespräch.Die Reputation bei Bekannten und Fremden steigt, wenn man angeben kann, dass man im ersten Arbeitsmarkt tätig ist.

Ich kenne ganz viele Kollegen, die immer wieder von ihrem Job geredet haben und ich konnte nicht mitreden. Und mittlerweile kann ich den Leuten sagen, ich arbeite beim Jumbo! Wo ich ständig angesprochen werde, ist im Zug. Die Leute sagen zum Beispiel: “Ich hatte Spätdienst bis um 20 Uhr“, dann sage ich: „Ich auch!“. Solche Gespräche entstehen öfter. Die Leute finden dann: „Ah wow, das ist ein Rollstuhlfahrer der arbeitet!“